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Das Bundesgericht hält weitere Grundsätze fest, die von den Behörden und Gerichten beim Entscheid über die Zustimmung zur Verlegung des Aufenthaltsortes von Kindern anzuwenden sind, wenn ein gemeinsam sorgeberechtigter Elternteil ins Ausland ziehen will. Ausgangspunkt zur Beurteilung der Frage, welche künftige Lösung dem Wohl des Kindes besser entspricht, bildet das bisherige Betreuungsmodell der Eltern. Zusammen mit dem Entscheid über den künftigen Aufenthaltsort des Kindes ist zudem die Betreuungs- und Besuchsregelung neu zu beurteilen und gegebenenfalls anzupassen. Auf den 1. Juli 2014 wurde im Zivilgesetzbuch als allgemeiner Grundsatz die gemeinsame elterliche Sorge über Kinder eingeführt. Die elterliche Sorge beinhaltet das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. Üben die Eltern das Sorgerecht gemeinsam aus und will ein Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes infolge Wegzugs ins Ausland verlegen, bedarf dies der Zustimmung des anderen Elternteils oder, falls dieser nicht einverstanden ist, der Kindesschutzbehörde beziehungsweise des Gerichts. An seiner öffentlichen Beratung vom 7. Juli 2016 legte das Bundesgericht erste Grundsätze fest, die beim behördlichen oder gerichtlichen Entscheid über den Wechsel des Aufenthaltsortes des Kindes infolge des Wegzugs eines Elternteils ins Ausland zu beachten sind. Im Zentrum steht demnach die Frage, ob das Wohl des Kindes in der neuen Situation besser gewahrt ist, wenn es mit dem auswanderungswilligen Elternteil wegzieht oder wenn es sich beim zurückbleibenden Elternteil aufhält. In einem zweiten Entscheid äussert sich das Bundesgericht nun zu weiteren massgebenden Aspekten. So ist bei der Überlegung, an welchem Ort das Wohl des Kindes künftig besser gewahrt sein wird, vom bisherigen Betreuungsmodell auszugehen. Die Ausgangslage betreffend Kindeswohl ist somit grundsätzlich neutral, wenn die Eltern das Kind bisher gemeinsam betreut haben und dazu auch weiterhin willens und in der Lage wären. War bisher der wegzugswillige Elternteil ganz oder überwiegend die Hauptbezugsperson, wird es tendenziell zum besseren Wohl des Kindes sein, wenn es bei diesem verbleibt und mit ihm wegzieht. Eine allfällige Umteilung des Kindes an den in der Schweiz verbleibenden Elternteil ist – sofern dieser zur Aufnahme des Kindes überhaupt fähig, bereit und in der Lage ist – sorgfältig zu prüfen und kann namentlich bei veränderten Verhältnissen in Frage kommen. Nur unter speziellen Umständen und ausnahmsweise kommt eine Platzierung des Kindes bei Dritten in Betracht. Massgeblich bleiben immer die Umstände des Einzelfalls. Zusammen mit dem Entscheid über die Zustimmung zur Verlegung des Aufenthaltsortes des Kindes ins Ausland ist zudem die Eltern-Kind-Beziehung neu zu beurteilen; gegebenenfalls ist eine neue Regelung betreffend Betreuung, Besuchsrecht sowie Unterhalt zu treffen. Was die Ausgestaltung des persönlichen Verkehrs zwischen den Eltern und dem Kind betrifft, wird dabei oft kein Idealzustand erreicht werden können. Bei grösseren räumlichen Distanzen wird die Neuregelung meist darauf hinauslaufen, häufige Wochenendbesuche durch einzelne verlängerte Wochenendeinheiten oder längere Ferienaufenthalte zu kompensieren. Die Behörden sind gehalten, hier eine verbindliche und durchsetzbare Regelung zu treffen für den Fall, dass der auswanderungswillige Elternteil tatsächlich wegzieht. Dazu müssen bei diesem zumindest die Konturen des beabsichtigten Wegzugs feststehen, nicht notwendigerweise aber alle Details wie die künftige genaue Wohn- oder Schuladresse. Im konkreten Fall wurde die Ehe eines bisher im Kanton St. Gallen wohnhaften Paares 2014 geschieden. Der Mutter, welche aus Österreich stammt, wurde vom Gericht die Erlaubnis erteilt, den Aufenthaltsort der beiden fünf und sechs Jahre alten Kinder nach Graz zu verlegen, wo sie künftig leben will. Laut Bundesgericht ist die Erlaubnis zur Verlegung des Aufenthaltsortes der Kinder bundesrechtskonform, zumal nur die Mutter überhaupt bereit ist, die Kinder zur Hauptsache zu betreuen.

Art. 301a, Art. 301 Abs. 2, Art. 133 Abs. 2 und Art. 273 Abs. 1 ZGB; Art. 5 und Art. 3 HKsÜ; Art. 5 Abs. 2 lit. a und lit. c LugÜ

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(BGer., 11.03.16 {5A_4501/2015}, Medienmitteilungen des Schweizerischen Bundesgerichts, 27.07.16 www.bger.ch)

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