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Die Möglichkeit, für Ordnungsbussen im Strassenverkehr den im Fahrzeugausweis eingetragenen Halter zu belangen, falls sich der tatsächliche Lenker nicht ermitteln lässt, ist mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Die entsprechende Regelung von Art. 6 des Ordnungsbussengesetzes (OBG) darf indessen mangels einer ausreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage nicht auf Unternehmen als Fahrzeughalter angewendet werden.

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Art. 6 OBG sieht vor, dass eine Ordnungsbusse (bis zu 300 CHF) dem im Fahrzeugausweis eingetragenen Halter auferlegt wird, wenn der tatsächliche Lenker nicht bekannt ist. Nennt der Halter Name und Adresse des Lenkers, so wird dieser belangt. Kann mit verhältnismässigem Aufwand nicht festgestellt werden, wer der Lenker war, so muss der Halter die Busse bezahlen, ausser er macht glaubhaft, dass das Fahrzeug gegen seinen Willen benutzt wurde und er dies trotz entsprechender Sorgfalt nicht verhindern konnte.

Im konkreten Fall hatte der Lenker eines Firmenwagens 2014 die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um 14 km/h überschritten. Gestützt auf Art. 6 OBG forderte die Kantonspolizei Obwalden das im Fahrzeugausweis als Halterin eingetragene Unternehmen zur Bezahlung der Busse von 250 CHF auf. Nachdem die Firma mitgeteilt hatte, dass sie nicht wisse, wer den Wagen gefahren habe, wurde sie von der Staatsanwaltschaft mit Strafbefehl zur entsprechenden Busse verurteilt. Die kantonalen Gerichte bestätigten den Entscheid.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Firma in seiner öffentlichen Beratung teilweise gut. Unter dem Blickwinkel der in der Bundesverfassung (BV) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Unschuldsvermutung (Art. 32 BV und Art. 6 EMRK) ist Art. 6 OBG nicht zu beanstanden. Die Unschuldsvermutung umfasst auch das «Recht zu schweigen». Dieses Recht gilt indessen nicht absolut. Gemäss neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben sich für Halter und Lenker von Motorfahrzeugen aus ihrer Akzeptanz der Strassenverkehrsgesetzgebung und der Fahrberechtigung gewisse Obliegenheiten. Darunter fallen auch Auskunftspflichten gegenüber einer Behörde. Verweigern sie die Auskunft, können sie dazu zwar nicht gezwungen werden. Sie müssen aber trotzdem die Konsequenzen tragen.

Die fragliche Norm verstösst indessen bei einer Anwendung auf Unternehmen als Fahrzeughalter gegen das Legalitätsprinzip beziehungsweise gegen den Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz». Gemäss Strassenverkehrsgesetz (SVG) sind im Bereich der Verkehrsdelikte die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches (StGB) anwendbar, soweit keine abweichende Regelung besteht. Das Strafgesetzbuch schliesst sodann eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen aus, wenn es wie vorliegend um eine blosse Übertretung geht. Da Art. 6 OBG nicht ausdrücklich auf eine Haftung von Unternehmen als Fahrzeughalter verweist, darf die Bestimmung bei Firmen deshalb mangels einer ausreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage nicht angewendet werden.

Art. 6 OBG; Art. 32 BV; Art. 6 EMRK

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(BGer., 20.6.2018 {6B_252/2017}, Medienmitteilungen des Schweizerischen Bundesgerichts, 20.6.2018, www.bger.ch)

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