Das Bundesgericht ändert seine Praxis zur Beurteilung des Anspruchs auf eine IV-Rente bei psychischen Leiden. Die für somatoforme Schmerzstörungen entwickelte Rechtsprechung, wonach in einem strukturierten Beweisverfahren anhand von Indikatoren die tatsächliche Arbeits- und Leistungsfähigkeit der betroffenen Person zu ermitteln ist, findet künftig auf sämtliche psychischen Erkrankungen Anwendung. Für leichte bis mittelschwere Depressionen im Speziellen bedeutet dies, dass dem bisherigen Kriterium der «Therapieresistenz» als Voraussetzung für eine IV-Rente nicht mehr die gleiche Bedeutung zukommt.
2015 hatte das Bundesgericht seine Praxis zur Klärung des Anspruchs auf eine IV-Rente bei Schmerzstörungen ohne erklärbare organische Ursachen (somatoforme Schmerzstörungen) und vergleichbare psychosomatische Leiden geändert (BGE 141 V 281, Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 17. Juni 2015). Der Entscheid über den Anspruch auf eine IV-Rente hat demnach in solchen Fällen in einem strukturierten Beweisverfahren zu erfolgen. In dessen Rahmen ist das tatsächlich erreichbare berufliche Leistungsvermögen der betroffenen Person unter Berücksichtigung leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und von Kompensationspotenzialen (Ressourcen) andererseits in einer Gesamtbetrachtung einzelfallgerecht zu beurteilen. Massgebende Indikatoren sind dabei unter anderem die Ausprägung der Befunde und Symptome, die Inanspruchnahme, der Verlauf und der Ausgang von Therapien und beruflichen Eingliederungsbemühungen, Begleiterkrankungen, Persönlichkeitsentwicklung und -struktur und der soziale Kontext der betroffenen Person sowie das Auftreten der geltend gemachten Einschränkungen in den verschiedenen Lebensbereichen (Arbeit und Freizeit). Die versicherte Person trägt nach wie vor die Beweislast. Das Bundesgericht kommt in den beiden Entscheiden vom 30. November 2017 zum Schluss, dass dieses Vorgehen zur Klärung des IV-Rentenanspruchs künftig bei allen psychischen Leiden anzuwenden ist und damit insbesondere auch bei leichten bis mittelschweren Depressionen. Psychische Krankheiten lassen sich grundsätzlich nur beschränkt anhand objektiver Kriterien feststellen oder beweisen. Auch wenn die diagnostische Einordnung medizinisch notwendig und eine lege artis gestellte Diagnose vorauszusetzen ist, kann es damit aus juristischer Sicht nicht sein Bewenden haben. Entscheidend ist vielmehr die Frage der funktionellen Auswirkungen einer Störung. Bei dieser Abschätzung der Folgen eines psychischen Leidens steht die Diagnose nicht mehr im Zentrum. Allein aus ihr resultiert keine verlässliche Aussage über die Leistungseinbusse der betroffenen Person. Vielmehr ist dazu bei sämtlichen psychischen Erkrankungen das indikatorengeleitete Beweisverfahren anzuwenden, zumal bei diesen Störungen im Wesentlichen vergleichbare Beweisprobleme bestehen. Allenfalls bedarf es je nach Krankheitsbild bei der Wertung einzelner Indikatoren gewisser Anpassungen. Aus Gründen der Verhältnismässigkeit kann dort von einem strukturierten Beweisverfahren abgesehen werden, wo es nicht nötig oder auch gar nicht geeignet ist. Ob dies zutrifft, beurteilt sich nach dem konkreten Beweisbedarf. Der Beweis für eine rentenbegründende Invalidität kann grundsätzlich nur dann als geleistet gelten, wenn bei umfassender Betrachtung ein stimmiges Gesamtbild für eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in allen Lebensbereichen resultiert. Fehlt es daran, ist der Beweis für eine invalidisierende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nicht geleistet, was sich zulasten der betroffenen Person auswirkt. Gemäss der bisherigen Rechtsprechung zu leichten bis mittelschweren Depressionen konnten entsprechende Erkrankungen nur dann als invalidisierend in Betracht fallen, wenn sie erwiesenermassen «therapieresistent» sind. Mit der nun vom Bundesgericht vorgenommenen Praxisänderung gilt dies nicht mehr in dieser absoluten Form. Die entscheidende Frage ist wie bei anderen psychischen Erkrankungen vielmehr, ob es der betroffenen Person gelingt, auf objektivierter Basis den Beweis einer invalidisierenden Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit zu erbringen. Die grundsätzlich gegebene Therapierbarkeit bei leichten bis mittelschweren Depressionen ist dabei weiterhin in die gesamthaft vorzunehmende Beweiswürdigung mit einzubeziehen, wobei eine konsequente, adäquate Therapie als zumutbar erachtet wird.
Art. 6, Art. 7 und Art. 61 ATSG; Art. 28 IVG
(BGer., 30.11.2017 {2C_841/2016 und 8C_130/2017}, Medienmitteilung des Bundesgerichts, 12.12.2017, www.bger.ch)