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Die neue Verfassungsbestimmung zur Steuerung der Zuwanderung (Artikel 121a BV) stellt keinen triftigen Grund dar, um von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU abzuweichen. Im konkreten Fall weist das Bundesgericht die Beschwerde einer Frau ab, deren Aufenthaltsbewilligung wegen langjähriger Sozialhilfeabhängigkeit nicht verlängert wurde.

Der Fall betrifft eine Frau aus der Dominikanischen Republik, die ihren heute 13 Jahre alten Sohn aufgezogen hat, der von einem in der Schweiz lebenden deutschen Staatsbürger stammt. Die Eltern waren nie verheiratet und leben heute auch nicht mehr zusammen. Der Vater verfügt über ein Aufenthaltsrecht gemäss dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU (FZA), der Sohn hat eine davon abgeleitete Niederlassungsbewilligung EU/EFTA. Die Zürcher Behörden verwehrten der Frau 2013 die Erneuerung ihrer Aufenthaltsbewilligung, weil sie über Jahre Sozialhilfeleistungen bezogen habe. Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Betroffenen ab. Es prüfte zunächst die Frage, inwieweit die nach der Unterzeichnung des FZA ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum FZA für die Schweiz massgebend ist. Damit in der Schweiz und der EU diesbezüglich eine möglichst parallele Rechtsprechung besteht, ist gemäss ständiger Praxis des Bundesgerichts nur dann von der späteren Auslegung der FZA-Bestimmungen durch den EuGH abzuweichen, wenn dafür triftige Gründe vorliegen. 2014 ist Artikel 121a der Bundesverfassung in Kraft getreten. Die Schweiz steuert gemäss der neuen Verfassungsbestimmung die Zuwanderung eigenständig; die Zahl der Bewilligungen für Ausländerinnen und Ausländer wird durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt. Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die neue Verfassungsbestimmung nicht dazu führen kann, die Methodik zur Auslegung des FZA zu ändern, das FZA restriktiver auszulegen oder die Rechtsprechung des EuGH aus der Zeit nach der Unterzeichnung des FZA nicht mehr zu befolgen. Die sektorielle Teilhabe der Schweiz am Binnenmarkt ist nur funktionsfähig, wenn die massgeblichen Normen durch den EuGH und das Bundesgericht die gleiche Auslegung erfahren. Das Bundesgericht hat im Zusammenhang mit dem FZA bereits entschieden, dass diesem gegenüber nationalem Recht Vorrang zukommt, selbst wenn das Gesetz vom FZA bewusst abweichen würde (BGE 133 V 367). Die neue Verfassungsbestimmung sieht vor, dass keine neuen völkerrechtlichen Verträge mehr abgeschlossen werden, die gegen Artikel 121a BV verstossen. Die Übergangsbestimmung verpflichtet dazu, bestehende widersprechende völkerrechtliche Verträge neu zu verhandeln oder anzupassen. Völkerrechtliche Verträge wie das FZA sind daher so lange anzuwenden, als sie nicht neu ausgehandelt oder aber gekündigt worden sind. Ob die betroffene Frau im vorliegenden Fall für sich ein Aufenthaltsrecht aus dem FZA ableiten kann, ist aufgrund des Entscheides Zhu und Chen des EuGH vom 19. Oktober 2004 zu beurteilen, wie dies das Bundesgericht bereits in anderen Fällen getan hat. Gemäss dem Entscheid Zhu und Chen hat ein sorgeberechtigter Elternteil aus einem Drittstaat das Recht, sich zusammen mit seinem minderjährigen Kind, das die Bürgerschaft eines FZA-Vertragsstaats hat, in einem anderen Vertragsstaat aufzuhalten. Voraussetzung ist, dass der Elternteil für das Kind tatsächlich sorgt und sie über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen. Aufgrund der ausgewiesenen Sozialhilfeabhängigkeit von Mutter und Kind kann die Frau aus dieser Rechtsprechung nichts für sich ableiten. Sie bringt allerdings vor, nunmehr eine feste Anstellung gefunden zu haben und nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig zu sein. Das Bundesgericht kann diesem neuen Vorbringen aus prozessualen Gründen keine Rechnung tragen. Sollte dies aber tatsächlich der Fall sein, liegt es an der Beschwerdeführerin, diesen Umstand mit einem erneuten Gesuch beim Amt für Migration des Kantons Zürich geltend zu machen.

Art. 121a BV

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(BGer., 26.11.15 {2C_716/2014}, Medienmitteilungen des Schweizerischen Bundesgerichts, 26.11.15, www.bger.ch)

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