Die neue Praxis zur Beurteilung des Anspruchs auf eine Invalidenrente bei somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbaren psychosomatischen Leiden führt nicht dazu, dass zuvor rechtskräftig beurteilte Fälle bei der IV neu angemeldet werden können. Eine Neubeurteilung aufgrund einer Neuanmeldung kommt nur infrage, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse bei der betroffenen Person in der Zwischenzeit verändert haben.
Das Bundesgericht hatte im Juni 2015 seine Praxis zur Beurteilung des Anspruchs auf eine Invalidenrente wegen somatoformer Schmerzstörungen und vergleichbarer psychosomatischer Leiden geändert (BGE 141 V 281, Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 17. Juni 2015). Gemäss dem Entscheid wurde die bisher geltende Vermutung aufgegeben, wonach solche Leiden in der Regel mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar sind. Stattdessen ist in einem strukturierten Beweisverfahren das tatsächliche Leistungsvermögen betroffener Personen ergebnisoffen und einzelfallgerecht zu bewerten. Im Anschluss an diesen Entscheid gelangte eine Frau ans Bundesgericht, deren Anspruch auf eine IV-Rente 2011 rechtskräftig verneint worden war. 2013 hatte sie sich erneut zum Bezug einer IV-Rente angemeldet. Ihr Ersuchen wurde wiederum abgewiesen. Vor Bundesgericht machte sie unter anderem geltend, dass sie auch an einer psychosomatischen Störung leide. Nach der Praxisänderung des Bundesgerichts müsse ihr im Rahmen des neuen strukturierten Beweisverfahrens ein Anspruch auf Beweisergänzung eingeräumt werden. Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Frau ab. Eine Änderung der Gerichtspraxis führt in der Regel nicht zur Anpassung einer rechtskräftigen Verfügung über eine Dauerleistung wie der IV-Rente. Eine Ausnahme kann unter anderem dann gelten, wenn sich die früheren Entscheide aus Sicht der heutigen Praxis schlechterdings nicht mehr vertreten lassen. Das ist bei der fraglichen Praxisänderung nicht der Fall. Mit dem Entscheid des Bundesgerichts vom vergangenen Juni erfolgte keine Änderung der Voraussetzungen, sondern des Nachweises für einen Leistungsanspruch. Die Aussicht auf eine Rentenleistung der IV ist nicht a priori gestiegen. Vielmehr betonte das Bundesgericht, dass auch in Zukunft dem klaren Willen des Gesetzgebers Rechnung zu tragen sei, wonach von der grundsätzlichen «Validität» der beweispflichtigen Person auszugehen sei. Rentenablehnungen unter der früheren Praxis erscheinen daher aus der heutigen Perspektive nicht ohne Weiteres als rechtswidrig, sachfremd oder schlechterdings unvertretbar. Die neue Praxis stellt für sich alleine deshalb keinen Grund für eine Neuanmeldung bei der IV oder eine Revision beziehungsweise eine Wiedererwägung früherer Entscheide dar. Grund für eine Neuanmeldung kann nur dann bestehen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse bei der betroffenen Person in der Zwischenzeit verändert haben.
Art. 7, Art. 8 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1, Art. 53 Abs. 2 und Art. 42 ATSG; Art. 29 Abs. 2 und Art. 9 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK
(BGer., 24.11.15 {8C_590/2015}, Medienmitteilungen des Schweizerischen Bundesgerichts, 28.12.15, www.bger.ch)