Das Bundesgericht ändert seine Praxis zur Beurteilung des Anspruchs auf eine Invalidenrente wegen somatoformer Schmerzstörungen und vergleichbarer psychosomatischer Leiden. Die bisher geltende Vermutung, dass solche Leiden in der Regel mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar sind, wird aufgegeben. Künftig ist in einem strukturierten Beweisverfahren das tatsächliche Leistungsvermögen betroffener Personen ergebnisoffen und einzelfallgerecht zu bewerten.
Mit seinem Leitentscheid BGE 130 V 352 von 2004 und anschliessenden Urteilen hatte das Bundesgericht die rechtlichen Grundsätze festgelegt, nach denen Schmerzstörungen ohne erklärbare organische Ursachen (somatoforme Schmerzstörungen) und vergleichbare psychosomatische Leiden mit Blick auf die Zusprechung einer Invalidenrente zu beurteilen sind. In seinem aktuellen Entscheid passt es die diesbezügliche Praxis an. Das Bundesgericht trägt dabei den Erfahrungen Rechnung, die in den elf Jahren seit dem Leitentscheid gesammelt werden konnten, sowie der Kritik, die von der medizinischen und der juristischen Lehre an der bisherigen Rechtsprechung und deren Umsetzung geübt wurde. Ein zentraler Punkt der Praxisänderung betrifft die Aufgabe der «Überwindbarkeitsvermutung»: Gemäss bisheriger Rechtsprechung wurde davon ausgegangen, dass psychosomatische Leiden in der Regel mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar sind und die Betroffenen somit keinen Anspruch auf eine IV-Rente haben. Nur das Vorliegen bestimmter Umstände konnte in Ausnahmefällen den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess als unzumutbar erscheinen lassen. An die Stelle dieses Regel- / Ausnahmemodells tritt gemäss neuer Rechtsprechung ein strukturiertes Beweisverfahren. In dessen Rahmen ist das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen der betroffenen Person in einer Gesamtbetrachtung einzelfallgerecht und ergebnisoffen zu beurteilen. Diese Bewertung erfolgt anhand eines Kataloges von Indikatoren, welche die massgeblichen Aspekte psychosomatischer Leiden umfassen. Die neue Rechtsprechung ändert nichts an der gesetzlichen Voraussetzung, dass eine invalidisierende Erwerbsunfähigkeit nur dann vorliegen kann, wenn sie aus objektiver Sicht als unüberwindbar scheint. Die versicherte Person trägt zudem nach wie vor die Beweislast. Anhand der Indikatoren ist künftig stärker als bisher zu berücksichtigen, welche Auswirkungen das Leiden auf die Arbeits- und Alltagsfunktionen der betroffenen Person hat. Bereits bei der Diagnosestellung ist vermehrt dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Diagnose «Schmerzstörung» einen gewissen Schweregrad voraussetzt. Weitere Rückschlüsse auf die Folgen der psychosomatischen Störung geben der Verlauf und der Ausgang von Therapien und von beruflichen Eingliederungsbemühungen. Mehr als bisher einzubeziehen sind zudem auch die Ressourcen, welche die Leistungsfähigkeit einer betroffenen Person begünstigen können. Hier sind insbesondere die Persönlichkeit und der soziale Kontext zu berücksichtigen. Entscheidend ist weiter, ob die geltend gemachten Einschränkungen in den verschiedenen Lebensbereichen (Arbeit und Freizeit) gleichermassen auftreten und ob sich der Leidensdruck in der Inanspruchnahme therapeutischer Möglichkeiten zeigt. Bei der Formulierung der Indikatoren und bei der Beurteilung der einzelnen Fälle wirken Recht und Medizin zusammen. Zuhanden der ärztlichen Begutachtung werden die medizinischen Fachgesellschaften konkretisierende Leitlinien zu erlassen haben, in denen der aktuelle medizinische Grundkonsens zum Ausdruck kommt.
Art. 6 ff. und Art. 7 Abs. 2 ATSG; Art. 4 Abs. 1 IVG
(BGer., 3.06.15 {9C_492/2014}, Medienmitteilungen des Schweizerischen Bundesgerichts, 17.06.15, www.bger.ch)