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Bagatelldelikte am Arbeitsplatz sind kein neues Thema, aber eines, mit dem sich die anwaltliche Praxis und die Gerichte zunehmend beschäftigen müssen. Dieser Beitrag zeigt die rechtlichen Grundlagen und die Gerichtspraxis auf und beantwortet die Frage, ob eine fristlose Entlassung gerechtfertigt ist.

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1. Einleitung
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Bagatelldelikte am Arbeitsplatz sind kein neues Phänomen. Entwendetes Büromaterial, abgezweigte Spesen, das vergessene Ausstempeln in der Pause oder Beschimpfungen des Chefs, um nur einige Beispiele zu nennen, haben die Gerichte schon immer beschäftigt. Abgesehen von den direkt betroffenen Parteien und allenfalls interessierten juristischen Fachkreisen hat das Thema aber kaum je besondere Wellen geschlagen. Neuerdings ist das anders. Seit einigen Jahren berichten Medien, weit über die Fachliteratur hinaus, immer wieder von spektakulären Fällen fristloser Entlassung. Sogar Talksendungen zur Primetime werden dem Thema gewidmet.1 Die Fälle reichen von geklauten Schweinshälsen über malträtierte Stühle zu heimlich eingesteckten Flaschenpfandbons, von stibitzten Salamischeiben, Frikadellen und Maultaschen, überlisteten Stempeluhren, abgezwacktem Strom bis – Amerika machts möglich – zum entblössten Busen.

Vielen dieser Fälle ist gemeinsam, dass der ­zugrunde liegende Deliktsbetrag von geringer bis geringster Höhe war. So wurden mehrere Urteile bekannt, bei welchen sich die Bereicherung des fehlbaren Arbeitnehmers in der Grössenordnung von weniger als fünf Franken bewegt hat. In einem Fall waren es gerade mal zwei Rappen. Dass deswegen ausgesprochene fristlose Entlassungen ein grosses Medienecho auslösen und weitherum für Unverständnis sorgen, ist verständlich. Die mediale Empörung fiel erst recht heftig aus, als bekannt wurde, dass in verschiedenen Fällen langjährige und bewährte Mitarbeitende betroffen waren, womit sich die offenkundige Frage der Verhältnismässigkeit umso mehr stellte. In Deutschland, wo sich einige wirklich bizarre Fälle zugetragen haben, erreichte eine betroffene Arbeitnehmerin, die Berliner Supermarktkassiererin Emmely, fast schon Kultstatus. Ihr wurde nach 31 klaglosen Betriebsjahren fristlos gekündigt, nachdem sie fremde Flaschenpfandbons im Wert von Euro 1,30 eingelöst hatte. Emmely liess sich weder durch einen kompromisslosen Arbeitgeber noch durch eine strenge einschlägige Rechtsprechung und auch nicht durch zwei abschlägige vorinstanzliche Urteile beeindrucken. Sie zog, sekundiert von Medien und Sympathisanten, finster entschlossen vor das Bundesarbeitsgericht – und bekam am 10. Juni 2010 recht.2 Seitdem, weil das deutsche Arbeitsrecht den Bestandesschutz kennt, ist Emmely Medienberichten zufolge wieder glücklich im Supermarkt tätig, wo sie allerdings nur noch die ­Regale auffüllen, nicht mehr aber die Kasse bedienen darf.

Die mediale Aufregung hat sich in letzter Zeit wieder etwas gelegt. Das Problem aber bleibt. Ein Blick in die Urteilssammlungen der Gerichte belegt, dass auch in der Schweiz immer wieder fristlose Kündigungen zur Beurteilung anstehen, die dem Themenbereich Bagatelldelikt zugeordnet werden können. Ebenso bestätigt die anwaltliche Beratungstätigkeit, dass es dem Thema an Aktualität nicht mangelt.

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2. Rechtliche Grundlagen
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2.1 Art. 337 OR
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Die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist in den Art. 337 bis 337d OR geregelt. Ganz im Zentrum steht Art. 337 OR, der die Voraussetzungen der fristlosen Kündigung zum Gegenstand hat und wie folgt lautet:

1 Aus wichtigen Gründen kann der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer jederzeit das ­Arbeitsverhältnis fristlos auflösen; er muss die fristlose Vertragsauflösung schriftlich begründen, wenn die andere Partei dies verlangt.

2 Als wichtiger Grund gilt namentlich jeder Umstand, bei dessen Vorhandensein dem Kündigenden nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden darf.

3 Über das Vorhandensein solcher Umstände entscheidet der Richter nach seinem Ermessen, darf aber in keinem Fall die unverschuldete Verhinderung des Arbeitnehmers an der Arbeitsleistung als wichtigen Grund anerkennen.

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2.2 Analyse von Art. 337 OR unter dem besonderen Blickwinkel der Bagatelldeliktskündigungen
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2.2.1 Der «wichtige Grund» im Allgemeinen
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Kernelement von Art. 337 OR ist der «wichtige Grund» in Absatz 1 der Bestimmung. Ein solcher muss also vorliegen, damit eine fristlose Kündigung gerechtfertigt ist. Dies ist nach Absatz 2 insbesondere immer dann der Fall, wenn dem Kündigenden nach Treu und Glauben nicht zuzumuten ist, das Arbeitsverhältnis weiterzuführen (Abs. 2), dies mindestens bis zum nächsten ordentlichen Kündigungstermin oder Ablauf des befristeten Vertrags. Wer sich also eine fristlose Kündigung überlegt, muss sich die Frage stellen, ob es ihm nach Treu und Glauben noch zuzumuten ist, mit dem Vertragspartner bis zum nächstmöglichen ordentlichen Beendigungszeitpunkt zusammenzuarbeiten oder nicht. Muss die Frage bejaht werden, sollte man besser die Hände von der fristlosen Kündigung lassen.

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2.2.2 Begehung von Straftaten im Besonderen
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Literatur und Praxis unterscheiden verschiedene Kategorien von Fallgruppen, die eine fristlose Kündigung rechtfertigen können. Eine wichtige Kategorie bilden strafbare Handlungen während der Anstellung. Die vorliegend interessierenden Bagatelldelikte wiederum bilden eine Untergruppe dieser Kategorie. Auf sie wird später noch im Detail einzugehen sein. An dieser Stelle soll im Sinne eines kurzen, generellen Überblicks der aktuelle Meinungsstand zu strafbaren Handlungen als Grund für eine fristlose Kündigung dargestellt werden.

Die Begehung einer strafbaren Handlung durch den Arbeitnehmer am Arbeitsplatz stellt nach Lehre und Rechtsprechung eine schwere Verletzung der Treuepflicht dar und bildet in der Regel einen wichtigen Grund für eine fristlose Entlassung.3 Im Besonderen gilt dies, wenn mit der Straftat die Vertrauenswürdigkeit dahingefallen ist, insbesondere bei Diebstahl, ­Unterschlagung, Veruntreuung, Betrug, Geheimnisverrat, Tätlichkeiten aller Art, sexueller Belästigung oder schwerer Beschimpfung. Wenn die Opfer der strafbaren Handlungen der Arbeitgeber selber, andere Mitarbeiter oder Kunden sind, genügen schon recht geringfügige Taten. Ist ein Aussenstehender das Opfer, sind die Anforderungen bezüglich der Schwere des Delikts wesentlich höher.4 Wenn aber das Ansehen der Firma dadurch ernstlich leidet, ist auch hier die fristlose Entlassung möglich, z.B. wenn ein Chauffeur auf Dienstfahrt sich zu groben Tätlichkeiten gegen eine Wirtin hinreissen lässt5 eine Schule durch das Plagiat eines Lehrers in Misskredit gerät6 oder wenn ein Chauffeur mit Kundenkontakt 64 Monate Zuchthaus erhält7. Allgemein steht bei Delikten gegen Dritte im Vordergrund, ob das Delikt Vertrauen oder Achtung gegenüber dem Mitarbeiter zerstört.

In all diesen Fällen, also auch bei Delikten zum Nachteil des Arbeitgebers, ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts stets eine Einzelfallprüfung anhand der konkreten Umstände und insbesondere der Schwere der Straftat notwendig.8 Das Bundesgericht führte dazu in BGE 4C.114/2005 vom 4. August 2005 Folgendes aus:

«In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass Straftaten, welche der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Arbeitstätigkeit oder auch im Privatleben zulasten der Mitarbeiter, des Arbeitgebers, aber auch von Kunden oder Dritten begeht, einen wichtigen Grund für eine fristlose Entlassung ohne vorgängige Verwarnung bilden können. Allerdings kommt es auch in diesen Fällen massgebend auf die Umstände und insbesondere die Schwere der Straftat an (Urteil des Bundesgerichts 4C.112/2002 vom 8. Oktober 2002 E. 5). So ist die Fortführung des Arbeitsverhältnisses nach einer ernst zu nehmenden Todesdrohung eines Arbeitnehmers gegenüber einem Arbeitskollegen nicht mehr zumutbar (BGE 127 III 351 E. 4b/dd, S. 355 ff.). Auch Diebstähle zulasten des Arbeitgebers stellen in der Regel einen wichtigen Grund zur Kündigung dar (Urteil des Bundesgerichts 4C.103/1999 vom 9. August 1999 E. 1, publ. in Pra 2000, Nr. 11, S. 56 ff.). Bei der Gewichtung einer Pflichtverletzung ist bei Kaderpersonen aufgrund des ihnen entgegengebrachten besonderen Vertrauens und der Verantwortung, welche ihnen ihre Funktion im Betrieb überträgt, ein strenger Massstab anzulegen (BGE 130 III 28 E. 4.1, S. 31; 127 III 86 E. 2b, S. 89). So hat das Bundesgericht bei einem Arbeitnehmer, der insbesondere als Personalleiter eine Vertrauensposition im Betrieb innehatte, eine Täuschung des Arbeitgebers durch das wahrheitswidrige Herstellen von Dokumenten für die Buchhaltung als wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung qualifiziert (BGE 124 III 25 E. 3a, S. 27 f.). Ein solcher Grund wurde auch bei einer mehrfachen Manipulation der Stempelkarte durch eine Kaderperson mit gleitender Arbeitszeit bejaht, zumal der Arbeitnehmer über die Sanktion im Falle der Zuwiderhandlung informiert worden war (Urteil des Bundesgerichts 4C.149/2002 vom 12. August 2002 E. 1.2 und 1.3). Das Kantonsgericht Jura nahm in einem Entscheid vom 12. September 1983 an, ein Arbeitnehmer, der sowohl mündlich als auch schriftlich wegen der Nichtbeachtung der Arbeitszeit, ungerechtfertigten Abwesenheiten und des Unterlassens des Stempelns verwarnt worden war, habe einen wichtigen Grund zur Kündigung gesetzt, indem er während der Abwesenheit seines Vorgesetzten einstempelte, dann die Arbeitsstelle, ohne auszustempeln, für vier Stunden verliess, um danach zum Geschäft zurückzukehren und auszustempeln, ohne gearbeitet zu haben (JAR 1984, S. 190 ff.).»

Die einfache Gleichung «strafbare Handlung gegen den Arbeitgeber = wichtiger Grund» ist also so pauschal nicht zulässig. Diese notwendige Differenzierung ist gerade für Bagatelldelikte wichtig.

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2.2.3 Umgehende Reaktion notwendig
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In einem weiteren Sinn ebenfalls Teil der nach Art. 337 OR notwendigen Zumutbarkeitsprüfung ist das von der Rechtsprechung entwickelte, formelle Erfordernis der umgehenden Reaktion. Danach ist eine fristlose Auflösung umgehend zu erklären, wenn der Grund dem Kündigenden zur sicheren und möglichst vollständigen Kenntnis gelangt ist.9 Damit ist nicht eine augenblickliche Reaktion gemeint, aber ein Handeln innert angemessener Frist nach dem Treffen der erforderlichen Abklärungen. Andernfalls sei anzunehmen, es sei auf das Recht zur fristlosen Kündigung verzichtet worden bzw. – damit schliesst sich der Kreis zur Zumutbarkeitsfrage – nimmt das Bundesgericht an, der Kündigende habe zu erkennen gegeben, dass nicht wirklich eine Unzumutbarkeit vorliege.10 Das Bundesgericht ist streng und gesteht dem Kündigenden im Normalfall lediglich zwei bis drei Arbeitstage zu.11 Die Lehre hat diese «Zwei-bis-drei-Tage-Regel» weitgehend kritiklos übernommen, sodass von einer herrschenden Rechtsauffassung gesprochen werden muss.

Im Interesse der Rechtssicherheit wäre es ­wünschenswert, wenn das Bundesgericht die näheren Modalitäten dieser Regel präzisieren würde. Heisst «in der Regel zwei bis drei Tage», dass der dritte Tag immer noch abgewartet werden darf, oder gibt es Fälle, wo schon am zweiten Tag gekündigt werden muss? Wäre Ersteres der Fall, könnte auf den in Literatur und Rechtsprechung stereotyp genannten zweiten Tag, da unnötig und nur Verwirrung stiftend, verzichtet werden. Träfe Letzteres zu, würde sich die Frage anschliessen, in was für Konstellationen zwei und in welchen Fällen drei Überlegungstage erlaubt sind. Nicht ganz klar ist auch, ob die zwei bzw. drei Tage stundengenau ab Kenntnis vom wichtigen Grund zu berechnen sind oder aber ob der Tag der Kenntnis ähnlich wie bei der Berechnung von Rechtsmittelfristen nicht eingerechnet wird.12 Letzteres Verständnis wäre allein schon aus praktischen Gründen zu bevorzugen. Es wäre weiter ein klares Bekenntnis dazu wünschenswert, ob die Frist mit dem Aussprechen der Kündigung eingehalten ist, d.h. dass also nicht etwa Zugang beim Empfänger innert Frist bewirkt werden muss, wie das sonst bei Kündigungen der Fall ist. In vielen ­Urteilen wird nur auf die maximal zulässige ­Bedenkfrist von zwei bis drei Tagen verwiesen, ohne näher darzutun, welche Rechtshandlung innerhalb dieser Frist zur Fristwahrung notwendig ist.13 Klarheit besteht mittlerweile immerhin darin, dass die zwei bis drei Tage als Arbeitstage und nicht als Kalendertage zu verstehen sind.14

Unabhängig von der Frage, wie die «Zwei-bis-drei-Tage-Regel» zu berechnen ist, ist zu berücksichtigen, dass bei juristischen Personen Willensbildungsprozesse aufwendiger sein können.15 Muss der Kündigungsentscheid von ­einem Gremium wie z.B. einem Verwaltungsrat in einer gemeinsamen Sitzung getroffen werden, kann sich die angemessene Reaktionsfrist nach Lehre und Rechtsprechung auf bis zu eine Woche verlängern.16 Trotz dieser punktuell etwas grosszügigeren Fristgewährung scheitern aber in der Praxis viele fristlose Arbeitgeberkündigungen an dieser zeitlichen Hürde.17

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3. Übersicht über die Rechtsprechung
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3.1 Zwischenfazit
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Die bisherigen Ausführungen machen vor allem eines deutlich: Pauschale Aussagen sind heikel und eine Einzelfallprüfung ist unabdingbar. Die Frage, ob ein wichtiger Grund vorgelegen hat oder nicht und ob sich damit eine ausgesprochene fristlose Kündigung als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt erweist, ist also immer anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Nichts anderes gilt für die hier interessierenden fristlosen Kündigungen als Folge von Bagatelldelikten am Arbeitsplatz. Insofern ist bei der folgenden Darstellung neuerer Urteile zum Thema Vorsicht angebracht: Nicht jeder Mitarbeiterdiebstahl und nicht jede Beschimpfung am Arbeitsplatz müssen zwangsläufig zum gleichen Ergebnis führen. Solange man sich dessen bewusst ist, kann die Analyse der einschlägigen Rechtsprechung aber durchaus geeignet sein, dem Phänomen Bagatelldelikt am Arbeitsplatz und seiner rechtlichen Behandlung schärfere Konturen zu verleihen.

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3.2 Arbeitsgericht Zürich, Urteil vom 31. März 2004 (AN030542)18: Mitarbeiterdiebstahl
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Ehre, wem Ehre gebührt: An erster Stelle, auch wenn es sich «nur» um ein erstinstanzliches Urteil handelt, ist der zumindest im Kanton Zürich fast schon legendäre Schweinshalsfall des Arbeitsgerichts Zürich zu nennen. Eine Betriebsmitarbeiterin in einem Buffetbetrieb wurde fristlos entlassen, nachdem sie dabei ertappt worden war, einen geräucherten Schweinshals von ca. drei Kilogramm Gewicht und Fr. 60.– Wert entwendet zu haben. Die Arbeitnehmerin bestritt den Vorwurf nur in Nuancen, indem sie erklärte, es habe sich nicht um einen Schweinshals, sondern um Rippli oder einen Rollbraten gehandelt mit einem Wert von höchstens Fr. 20.–. Dass die Buffetmitarbeiterin Fleisch entwendet hatte, war jedenfalls unbestritten.

Das Arbeitsgericht Zürich hiess die Klage der geschassten Arbeitnehmerin gut und verpflichtete den Arbeitgeber nicht nur zur Leistung von vollem Lohnersatz, sondern überdies auch zur Bezahlung einer Pönale von zwei Monatslöhnen im Sinne von Art. 337c Abs. 3 OR. Das Gericht führte zur Begründung aus, dass selbst im für die Klägerin ungünstigen Fall maximal von ­einem Diebstahl im Betrag von Fr. 60.– auszugehen sei. Deshalb müsse die strafrechtliche Privilegierung von Art. 139 Ziff. 1 StGB in Verbindung mit Art. 172ter Abs. 1 StGB berücksichtigt werden, wonach die sogenannten geringfügigen Vermögensdelikte nur eine Übertretung darstellen würden (sanktioniert lediglich mit Busse und nur auf Antrag strafbar). Diese ­Grenze sei im Einklang mit der strafrechtlichen Lehre bei Fr. 300.– anzusetzen und damit im vorliegenden Fall nicht annähernd erreicht worden. Durch den einmaligen Vorfall, so das ­Arbeitsgericht weiter, sei das langjährige Vertrauen nicht im Sinne von Art. 337 Abs. 2 OR derart schwer und gravierend verletzt worden, dass der Arbeitgeberin die Fortführung des ­Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht mehr zuzumuten gewesen wäre. Die fristlose Kündigung wäre deshalb nur dann gerechtfertigt gewesen, wenn die Klägerin vorgängig und schriftlich verwarnt worden wäre, was nicht der Fall gewesen sei. Folglich sei die fristlose Kündigung ungerechtfertigt.

Der unterlegene Arbeitgeber fand sich mit diesem Entscheid nicht ab und ging in die Berufung. Diese wurde am 28. Juni 2004 durch Vergleich erledigt, sodass – leider – ein Berufungsurteil fehlt. Gut informierte Quellen berichten aber, dass das Zürcher Obergericht die Auffassung des Arbeitsgerichts überhaupt nicht teilte und stattdessen in der Vergleichsverhandlung durchblicken liess, dass es die fristlose Kündigung schützen würde. Gestützt auf diese Einschätzung, schlossen die Parteien dann einen Vergleich, der einem Klagerückzug durch die Buffetmitarbeiterin gleichgekommen ist.

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3.3 Bundesgericht, Urteil vom 4. August 2005 (4C.114/2005): Stempeluhrmanipulation
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Ein Schichtführer fragte am 4. Februar 2002 seinen Vorgesetzten, ob er am nächsten Tag die Schicht anstatt um 21.00 Uhr bereits um 19.00 Uhr verlassen könne, um als Schiedsrichter an einem Fussballmatch mitwirken zu können. Dies wurde ihm bewilligt. Am nächsten Tag verliess der Schichtführer die Arbeitsstelle allerdings schon um 18.30 Uhr, also eine halbe Stunde früher als mit dem Vorgesetzten abgesprochen. Der Schichtführer liess sich dabei durch einen ihm untergebenen Mitarbeiter erst um 19.00 Uhr ausstempeln, womit er vortäuschte, dass er bis um 19.00 Uhr im Betrieb anwesend war. Die Arbeitgeberin bemerkte diese Stempeluhrmanipulation schon am nächsten Tag und entliess den Schichtführer am 8. Februar 2002 fristlos.

Das Landgericht Uri und das Obergericht des Kantons Uri hiessen die Klage des Schichtführers gut und verpflichteten die Arbeitgeberin zur Leistung von Lohnersatz und Pönale im Sinne von Art. 337c Abs. 3 OR. Darauf gelangte die Arbeitgeberin an das Bundesgericht. Dieses gab der Arbeitgeberin insofern recht, als eine Stempeluhrmanipulation an sich tatsächlich einen schwerwiegenden Verstoss gegen die Treuepflicht darstelle. Im vorliegenden Fall werde die Verfehlung aber dadurch relativiert, dass sich der Kläger während der mehrjährigen Dauer des Arbeitsverhältnisses durch gute Leistungen und ein korrektes Verhalten ausgewiesen habe und es sich bei der vorgeworfenen Manipulation um einen einmaligen Verstoss im Umfeld eines bestimmten Anlasses (Schiedsrichterfunktion bei einem Fussballspiel) gehandelt habe. Zwar, so das Bundesgericht weiter, treffe zu, dass der Kläger als Schichtführer eine besondere Vertrauensposition innegehabt habe. Allerdings könne nicht von einer Kaderposition mit erheblicher Verantwortung gesprochen werden. Weiter zog das Bundesgericht in Erwägung, dass im Betrieb der Arbeitgeberin Stempeluhrmanipulationen offenbar immer wieder vorkamen und auch toleriert wurden. Aus diesen Gründen habe die Vorinstanz das ihr gemäss Art. 337 Abs. 3 OR eingeräumte Ermessen nicht überschritten, wenn es annahm, die einmalige durch den Kläger veranlasste Manipulation der Stempeluhr habe nach Treu und Glauben keinen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung im Sinne von Art. 337 Abs. 1 OR gebildet.

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3.4 Bundesgericht, Urteil vom 12. Januar 2006 (4C.364/2005): Sachbeschädigung
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Der Kläger war seit dem 1. Dezember 2000 bei einem Spital als diplomierter Rettungssanitäter in der Funktion eines Teamchefs angestellt. Anlässlich einer Weiterbildung im September 2003 wurde ein neuer Transportstuhl vorgestellt, mit welchem die Patienten bei Einsätzen transportiert werden können. Nach dem Kurs wurde unter den Teilnehmern über die Anschaffung eines solchen Stuhls gesprochen sowie darüber, dass diese Neuanschaffung für 2004 bereits budgetiert sei. Scherzhaft wurde auch bemerkt, dass der Transportstuhl schneller ersetzt würde, wenn der alte vorher kaputtginge. Namentlich äusserte auch der Leiter des Rettungsteams und Vorgesetzte des Klägers, «der Stuhl müsse z’Bode».

Kurz darauf, am 11. September 2003, schritt der Kläger kurzerhand zur Tat und überfuhr den Transportstuhl absichtlich mit einem Allradfahrzeug. Er teilte dies dem Vorgesetzten sogleich telefonisch mit. Dieser qualifizierte den Vorfall nicht, weder tadelnd noch lobend. Der Personalchef des Spitals erfuhr wenige Tage später durch eine Arbeitskollegin des Klägers vom erwähnten Ereignis, erklärte sich aber nicht bereit, Massnahmen zu ergreifen, solange ihm nichts Schriftliches vorliege. Am 21. September 2003 gelangte der Personalchef in den Besitz eines entsprechenden Schreibens, worauf er am 22. September 2003 die fristlose Entlassung des Klägers aussprach.

Während die erste Instanz, der Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises VII Konolfingen, die fristlose Entlassung für gerechtfertigt hielt, ­wurde dies vom Obergericht des Kantons Bern verneint. Daraufhin gelangte das Spital ans Bundesgericht. Dieses machte, ähnlich wie der Rettungssanitäter mit dem alten Transportstuhl, kurzen Prozess: Es sei vor dem Hintergrund des zögerlichen Verhaltens des Vorgesetzten sowie des Personalchefs schon höchst fraglich, ob das Verhalten des Arbeitnehmers das gegenseitige Vertrauen in subjektiver Hinsicht unwiederbringlich zerstört habe. Da im Übrigen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Rettungssanitäter erneut ähnlich handeln würde, lasse sich der Vorfall auch objektiv als einmaliges, aus der besonderen Situation heraus entstandenes Ereignis einstufen. Die Auffassung der Vorinstanz, dem Spital sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses jedenfalls bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zuzumuten gewesen, liege im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens und halte vor Bundesrecht stand.19 Entsprechend wurde die Berufung abgewiesen.

Dieser Entscheid ist auch noch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Das Spital hatte im Prozess unter anderem auch damit argumentiert, dass man den Rettungssanitäter am 6. August 2003, also nur wenige Wochen vor dem Vorfall mit dem Transportstuhl, wegen privater Benutzung des Notfallhandys verwarnt habe. Das Spital argumentierte, dass diese Verwarnung bzw. die dadurch bewirkte Herabsetzung der Voraussetzungen an den wichtigen Grund auch in die Beurteilung der Stuhlzerstörungsaktion einfliessen müsse. Auch damit drang das Spital nicht durch. Das Bundesgericht hielt dem entgegen, dass eine Verwarnung immer nur für solche Handlungen eine Wirkung entfalten könne, welche thematisch von der Verwarnung erfasst würden. Handymissbrauch einerseits (nur dieser war Gegenstand der Verwarnung) und Zerstörung des Transportstuhls andererseits hätten thematisch nichts miteinander zu tun, weshalb in Bezug auf den Transportstuhl vom Fehlen einer vorgängigen Verwarnung auszugehen sei. Dieser Rechtsauffassung des Bundesgerichts kann nicht gefolgt werden. Richtig ist, dass gleichartige Verstösse nach einer Verwarnung unter dem Aspekt von Treu und Glauben besonders ins Gewicht fallen. Das schliesst aber nicht aus, dass einer Verwarnung auch eine allgemeine, über die konkrete Ersthandlung hinaus ausstrahlende Warnfunktion zukommt, die es im Wiederholungsfall auch bei ersthandlungsfremden Verfehlungen zu berücksichtigen gilt. Dies gilt erst recht, wenn die Verwarnung neben der Bezeichnung des konkreten Erstvorfalls in dem Sinn allgemein formuliert ist, dass Massnahmen für jedwelche Art weiterer Verfehlungen vorbehalten werden.20 Umgekehrt ist aber auch festzuhalten, dass eine Verwarnung dem Arbeitgeber keinen Persilschein verschafft, dass also auch nach einer Verwarnung nicht jede Kleinigkeit eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen vermag.21 Klar ist auch, dass nur solche Verwarnungen überhaupt eine Rechtswirkung auslösen können, denen tatsächlich ein entsprechendes Fehlverhalten des Arbeitnehmers zugrunde liegt. Reine Alibiverwarnungen, wenn sich der Arbeitnehmer überhaupt nichts hat zuschulden kommen lassen, sind selbstverständlich wirkungslos.

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3.5 Bundesgericht, Urteil vom 26. Juni 2006 (4C.154/2006): Beschimpfung einer Vorgesetzten
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Die Klägerin arbeitete seit dem 15. Juni 2003 als Arztsekretärin in einer Klinik im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Im Juni 2004 wurde das Arbeitsverhältnis ordentlich gekündigt.22 Am 19. August 2004, während laufender Kündigungsfrist, kam es zwischen der Arztsekretärin und ihrer Vorgesetzten zu Differenzen. Die Arztsekretärin hatte die Telefonliste zu aktualisieren. Nach verrichteter Arbeit übergab sie ihr Arbeitsresultat ihrer Vorgesetzten. Diese war damit nicht zufrieden und wies die Arztsekretärin an, bestimmte Korrekturen vorzunehmen. Hierauf rief die Arztsekretärin ihrer Vorgesetzten in Anwesenheit von Mitarbeiterinnen und Patienten zu: «Sie können mich langsam...» Aufgrund dieser Äusserung entliess die Klinik die Arztsekretärin noch am selben Tag fristlos.

Nach widersprechenden Urteilen der Vorinstanzen hatte sich das Bundesgericht mit dem unvollständigen Götz-Zitat zu beschäftigen. Es kam zum Schluss, dass der Ausruf der Arztsekretärin, auch wenn das Zitatende nicht ausgesprochen worden sei, nur als Herabwürdigung der Vorgesetzten im Sinne des Volltextes des Zitats verstanden werden könne. Stark gewichtete das Bundesgericht auch, dass die Beschimpfung vor Mitarbeiterinnen und Patienten stattgefunden habe. Das Bundesgericht schloss: «Nachdem die Klägerin ihre Vorgesetzte vor deren Untergebenen und den Kunden beschimpft hat, konnte die Vorinstanz jedenfalls ohne Verletzung von Bundesrecht erkennen, dass der Beklagten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten war, denn das Verhalten der Klägerin untergrub die Autorität ihrer Vorgesetzten beziehungsweise des Arbeitgebers.»

Das Bundesgericht hat sich in ähnlichen Fällen aber auch schon weniger feinfühlig gezeigt, vor allem dann, wenn die angespannte Situation, welche die Schimpfwörter provozierte, auf ein vertrags- oder gesetzeswidriges Verhalten des Arbeitgebers zurückzuführen war. So durfte ein Koch, der bei seiner Kündigung zu Recht auf die Einhaltung der Kündigungsfrist pochte, ­seinen Vorgesetzten am Telefon mehrmals als «Arschloch» bezeichnen, ohne dass ihm dies im Kündigungsprozess zum Nachteil gereicht hätte. Dem von der Vorinstanz als «mimosenhaft» bezeichneten Arbeitgeber wurde unter ­anderem vorgehalten, dass der Koch, ein gebürtiger Sudanese, das fragliche Schimpfwort überhaupt erst von seinem Vorgesetzten, den er später am Telefon damit beschimpfte, kennengelernt hatte.23 In BGE 4C.435/2004 wurde dagegen die Beschimpfung eines Malers, der seinen Vorgesetzten wahlweise als «geldgieriges» und «profitgeiles Arschloch» betitelt hatte, als ausreichend für eine fristlose Kündigung ­taxiert, zumal die Beschimpfung vor versammelter Belegschaft stattfand. Anders wiederum das Tessiner Tribunale di appello, für welches die Beschimpfung mit «vaffanculo» nicht genügte.24, 25

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3.6 Bundesgericht, Urteil vom 14. Mai 2010 (4A_115/2010): Trunkenheit eines Berufschauffeurs
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Dem Arbeitnehmer, der vornehmlich als Chauffeur auf dem Genfer Flughafen Cateringwaren transportierte, wurde nach 21 klaglosen Dienstjahren fristlos gekündigt, weil bei ihm bei einer Strichprobenkontrolle während eines Fahreinsatzes eine Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille festgestellt wurde. Damit hatte der Arbeitnehmer gegen eine Weisung des Flughafenbetreibers, seines Arbeitgebers, verstossen, welche während der Arbeitszeit vollständige Nüchternheit verlangte.

Das letztinstanzlich angerufene Bundesgericht erklärte die fristlose Kündigung für ungerechtfertigt. In solchen geringfügigen Fällen sei im Regelfall eine vorausgegangene Verwarnung notwendig. Eine Ausnahme gelte nur dann, wenn sich der Vorfall nach objektiver Wertung derart negativ auf die Arbeitsqualität ausgewirkt habe, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zuzumuten sei.26 Dies sei vorliegend nicht der Fall gewesen.27

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3.7 Arbeitsgericht Zürich, Urteil vom 24. Februar 2009 (AN080492): Missbrauch von Bonuspunkten
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Ein Verkaufsberater war fristlos entlassen worden, weil er in nicht weniger als 51 Fällen ­Bonuspunkte von Kunden auf die Bonuskarte seiner Mutter gebucht hatte. Der Verkaufsberater machte zu seiner Rechtfertigung geltend, er habe dies immer nur dann gemacht, wenn die Kunden damit einverstanden gewesen wären. Die Bonuspunkte seien ihm bzw. seiner Mutter gewissermassen von den Kunden geschenkt worden. Diese Erklärung wurde vom Arbeitsgericht einerseits als nicht glaubhaft und andererseits als nicht relevant bezeichnet. Letzteres deshalb, weil – was im Prozess offenbar unbestritten blieb – der Verkaufsberater auch Punkte von solchen Kunden zugunsten seiner Mutter buchte, die gar nicht am Bonuspunkteprogramm teilnahmen und damit auch nicht punktberechtigt waren. Entsprechend, so das Arbeitsgericht weiter, hätten diese Kunden gar nichts zu verschenken gehabt. Ebenso wenig wurde der Verkaufsberater damit gehört, dass er die entsprechende Weisung des Arbeitgebers, wonach man Kundenpunkte nicht einheimsen dürfe, gar nie gesehen habe. Das Gericht zweifelte einerseits an dieser Behauptung und führte andererseits aus, dass es darauf nicht ankomme. Aufgrund seiner Stelle und Qualifikation hätte er ganz unabhängig von der Weisung wissen müssen, dass sein Verhalten nicht erlaubt sei. Demzufolge sei die fristlose Kündigung gerechtfertigt gewesen.28

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3.8 Obergericht des Kantons Luzern, Urteil vom 28. September 1999: Einkassieren des Retourgelds29
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Eine kaufmännische Mitarbeiterin im Kassabüro hatte bei ihrer Arbeitgeberin zu privaten Zwecken einen Spielzeug-Laptop gekauft. Weil das Gerät nicht richtig funktionierte, wurde nach einer Ersatzlösung gesucht. Dabei wurde mit der Arbeitgeberin vereinbart, dass die Arbeitnehmerin ein Ersatzgerät für Fr. 125.– erwerben könne. Das defekte Gerät sollte sie behalten, wobei sie den dafür gezahlten Kaufpreis nicht rückvergütet erhielt. In der Folge bezahlte die Arbeitnehmerin das Ersatzgerät aber nicht. Im Gegenteil: Sie liess sich den Betrag von Fr. 125.– als Retourgeld ausbezahlen. Darauf kündigte die Arbeitgeberin fristlos. Das Obergericht sah diesen nicht leicht überschaubaren Sachverhalt als nachgewiesen an und ging davon aus, dass sich die Arbeitnehmerin zu Unrecht das Retourgeld ausbezahlen liess. Gleichwohl schützte es die fristlose Kündigung nicht. Die Weiterbeschäftigung sei der Arbeitgeberin bis zur Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung noch zumutbar gewesen.

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3.9 Ein Blick über die Landesgrenze
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Zur Abrundung noch ein Blick über die Landesgrenze hinaus. Wie bereits eingangs erwähnt, haben in den letzten rund zwei Jahren vor allem in Deutschland verschiedene Fälle von Bagatelldelikten für Aufsehen gesorgt. Neben dem bereits angesprochenen Fall Emmely ist z.B. jene Pflegerin eines Altersheims in Konstanz zu nennen, welche vier bis sechs Maultaschen (die genaue Anzahl war vor Gericht umstritten) mit nach Hause genommen und dort verzehrt hatte. Die Maultaschen wären, wie sich im Prozess ergab, ohnehin im Mülleimer des Altersheims gelandet. Die gleichwohl ausgesprochene fristlose Kündigung wurde erstinstanzlich geschützt, zweitinstanzlich verglich man sich hingegen auf eine Abfindungszahlung im Betrag von rund Euro 42 500.– mit gleichzeitiger Aufhebung des Arbeitsvertrags.30

Ein ähnlicher Fall betraf eine langjährige Sekretärin des Baugewerbeverbands Westfalen in Dortmund. Die Sekretärin hatte sich unerlaubt mit zwei Brötchenhälften und einem Hacktätschli (Frikadelle) an einem für den Chef und seine Gäste bestimmten Buffet bedient (das sie notabene selber hergerichtet hatte). Darauf ­kassierte sie die fristlose Kündigung. Der Fall schaffte es sogar in eine Talksendung des ­öffentlichrechtlichen deutschen Fernsehens.31 Soweit bekannt, scheint die Streitsache bis heute ungelöst zu sein.32

Der jüngste und wohl bizarrste Fall wurde im Jahr 2010 entschieden: Einem 41-jährigen Computerfachmann mit 19 klaglosen Dienstjahren war fristlos gekündigt worden, nachdem er seinen Elektoroller an einer Steckdose im Betrieb aufgeladen hatte. Der von den Gerichten ermittelte Gegenwert des bezogenen Stroms belief sich auf 1,8 Cent. Sowohl das Arbeitsgericht Siegen am 14. Januar 2010 wie auch das ­Landesarbeitsgericht Hamm am 2. September 2010 erklärten die fristlose Kündigung für ungerechtfertigt und verpflichteten den unterlegenen Arbeitgeber, den Computerfachmann wieder im Betrieb zu beschäftigen. Eine Revision dagegen wurde nicht zugelassen, sodass der Entscheid endgültig ist.33

Ein letzter Blick geht nach Amerika: Eine ­Marketingexpertin des New Yorker Hochglanzmagazins «Brides» unterzog sich einer Brustvergrösserungsoperation. Als die Frau Ende Dezember 2009 nach der Operation zurück zur Arbeit erschien, wurde sie von zwei neugierigen Arbeitskolleginnen gebeten, ihnen das Werk zu präsentieren. Daraufhin bat die Marketingfrau die beiden Frauen in ihr Büro, schloss die Tür, knüpfte ihre Bluse auf, liess aber den Sport-BH für die Demonstration an (alles nach den Angaben ihres Anwalts). Als dieser Vorgang im Unternehmen bekannt wurde, fühlte sich eine unbeteiligte (!) Arbeitskollegin deswegen belästigt, worauf sie die Marketingfrau wegen unzüchtigen Verhaltens bei den Vorgesetzten denunzierte. Die Marketingfrau wurde darauf prompt fristlos entlassen. Der Ausgang der Angelegenheit ist ungewiss, der Anwalt der Betroffenen liess wissen, er bereite eine Klage vor.34

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4. Schlussfolgerungen
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Die vielleicht wichtigste, wenn auch etwas ernüchternde Schlussfolgerung ist jene, dass es für die Frage, ob eine Bagatelldeliktskündigung gerechtfertigt ist oder nicht, kein Patentrezept gibt. Das Leben ist zu vielfältig, die Konfliktsituationen sind zu unterschiedlich, als dass man einfach mit dem Rechenschieber zu Werke gehen könnte. An einer Einzelfallprüfung anhand der konkreten Umstände führt kein Weg vorbei. Es ist Stärke und Schwäche von Art. 337 OR zugleich, dass er einerseits durch seine offenen Formulierungen allen Facetten des konkreten Falls Rechnung tragen kann, andererseits aber den Rechtsanwender ein Stück weit mangels griffiger gesetzlicher Leitplanken im Stich lässt.

Sieht man sich als Arbeitgeber oder beratender Anwalt mit der Frage konfrontiert, ob es nun im konkreten Einzelfall für die fristlose Kündigung reicht bzw. – falls man sich als Richter in der Nachschau damit befassen muss – ob es gereicht hat, muss man sich die Frage stellen, ob es nach Treu und Glauben noch zumutbar ist (bzw. gewesen wäre), bis zum nächsten ordentlichen Vertragsende mit dem Arbeitnehmer zusammenzuarbeiten. Bei der Beantwortung dieser Schlüsselfrage orientiert man sich am besten an der einschlägigen Rechtsprechung. Gerade die zitierten jüngeren Entscheide haben dem Phänomen der Bagatelldeliktskündigung etwas griffigere Konturen verliehen. Auch wenn der eine oder andere Entscheid sicher diskutabel ist, kann man insgesamt sagen, dass die hiesigen Gerichte bei der Beurteilung solcher fristloser Kündigungen mit Augenmass vorgehen. Sie wenden sich zu Recht gegen übertrieben kategorische Positionsbezüge in die eine oder andere Richtung. Die Verharmlosung von Bagatelldelikten am Arbeitsplatz ist ebenso wenig sachgerecht wie das Anlegen eines moralinsauren Massstabs, wie man ihn in manchen deutschen Urteilen findet.

Zum Schluss sollen im Sinne eines Resümees und ohne Anspruch auf Vollständigkeit die wichtigsten Prüfungskriterien, wie sie sich aus der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung ableiten lassen, stichwortartig nochmals zusammengefasst werden:

  • Deliktstyp (Verbrechen, Vergehen oder Übertretung)
  • Verschuldensform: Vorsatz oder Fahrlässigkeit
  • Modus operandi: berechnendes Handeln, Aufbau von Lügengebäuden usw. versus Handeln in verständlicher emotionaler Aufregung
  • Wiederholungsgefahr versus einmaliges Handeln aufgrund besonderer Situation35
  • Bei Vermögensdelikten: Deliktsbetrag und Bereicherungsabsicht
  • Häufigkeit der Verfehlungen
  • Vorgängige Verwarnung erfolgt?
  • Vorgängige Sensibilisierung durch Vertragsgrundlagen / Weisungen erfolgt?
  • Kadereigenschaft und / oder besondere Vertrauensstellung (z.B. anvertraute Vermögenswerte)
  • Aussenwirkung der Verfehlung gegenüber Dritten (Mitarbeitern, Kunden, Öffentlichkeit): z.B. in Bezug auf Disziplin im Betrieb und Imageschaden gegen aussen
  • Schutzbedürftigkeit von Dritten (Mitarbeiter, Kunden)
  • Verhalten des Fehlbaren bei der Sachverhaltsaufklärung: kooperativ oder renitent, einsichtig oder unbelehrbar?
  • Betriebliches «Vorleben» des Arbeitnehmers, insbesondere Dienstalter
  • Selbstverschulden des Arbeitgebers
  • Nächstmöglicher Zeitpunkt der ordentlichen Vertragsbeendigung: je weiter weg, umso weniger ist weitere Zusammenarbeit zumutbar (und vice versa)
  • Arbeitsverhältnis ohnehin schon gekündigt?36
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  1. Z.B. die Sendung «Anne Will: Wegen Frikadelle gefeuert – gnadenlose Arbeitswelt?», Sendung in der ARD vom 11. September 2009.
  2. Aktenzeichen 2 AZR 541/09.
  3. Statt vieler: Portmann, Basler Kommentar, Obligationenrecht I, 4. Auflage Basel 2007, N 22 zu Art. 337 OR; Streiff / von Kaenel / Rudolph, Praxiskommentar, 7. Auflage 2012, N 5 zu Art. 337 OR.
  4. OGer BL in JAR 1995, 205; BGer in JAR 1997, 201 (Schädigung der Arbeitslosenkasse durch Taggeldbezug).
  5. Decurtins, Die fristlose Entlassung, 1981, Nr. 93.
  6. BGer in JAR 1997, S. 198.
  7. JAR 1987, S. 207.
  8. BGE 4C.114/2005 Erw. 2.1.
  9. Zur Rechtslage einer sogenannten Verdachtskündigung, wenn sich der Verdacht im Nachhinein nach Aussprechend der Kündigung als nicht gerechtfertigt erweist, vgl. ausführlich Streiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 7 zu Art. 337 OR.
  10. BGE 127 III 310 Erw. 4b = JdT 2001 I 367 = JAR 2002, 166; BGer in JAR 2002, 267.
  11. BGer in JAR 1994, 223, bestätigt in JAR 1998, 235, JAR 2000, 231 und JAR 232, 2002, 267; gewisse Aufweichung bei Verfehlungen gegenüber Dritten in BGE 127 III 351 Erw. 4b.dd.
  12. Beispiel: Ein Arbeitgeber erfährt am 3. März um 10.00 Uhr vormittags, dass sein Arbeitnehmer Geld aus der Kasse veruntreut hat. Muss die Kündigung bis um 10.00 Uhr des 6. März ausgesprochen werden oder steht noch der ganze 6. März zur Verfügung?
  13. Beispiel in BGE 130 III 28 Erw. 4.4: «Un délai général de deux à trois jours ouvrables de réflexion est présumé approprié.»
  14. BGE 130 III 38 Erw. 4.4; BGE 8C_211/2010 Erw. 2.2.4.
  15. BGE 93 II 19.
  16. Statt vieler: BGer in JAR 1997, 209, bestätigt in JAR 2000, 232; Streiff / von Kaenel (FN 9), N 17 zu Art. 337 OR.
  17. Ausführlich zum Ganzen: Streiff / von Kaenel (FN 9), N 17 zu Art. 337 OR.
  18. Entscheide des Arbeitsgerichts Zürich 2004, Nr. 23.
  19. Auf die an sich naheliegende Frage, ob die Kündigung nicht ohnehin verspätet ausgesprochen worden war, musste das Bundesgericht deshalb gar nicht mehr näher eintreten.
  20. Vgl. zur Verwarnung auch BGE 4C.10/2007, wonach eine Verwarnung nicht zwingend die explizite Androhung der fristlosen Entlassung enthalten müsse. Arbeitgeber sind aber gleichwohl gut beraten, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen und im Zweifelsfall diese mögliche Massnahme doch im Verwarnungsschreiben zu erwähnen.
  21. BGE 127 III 153 Erw. 1c = JAR 2002, 258 = ARV 2001, 41; weiterführend Streiff / von Kaenel (FN 9), N 13 zu Art. 337 OR.
  22. Der genaue Zeitpunkt war im Prozess umstritten. Für den Entscheid war dies aber nicht relevant.
  23. Weitere Fälle, in welchen die fristlose Kündigung geschützt wurde: «Trottel» (OGer Luzern in SJZ 2003, 39), «alte Schlampe» (zu Kundin geäussert; Arbeitsgericht Zürich in SAE 1992, 54); «espionne», «paranoïque» und «vieille peau» an die Adresse einer ­Arbeitskollegin, die unglücklicherweise die Frau des Direktors war (BGer in Aubert, 700 arrêts sur le contrat de travail, Manuskript Zürich 2001). Zum Ganzen ausführlich: Streiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 5 zu Art. 337 OR.
  24. Sarb 2001 Nr. 226.
  25. Weitere Fälle bei Streiff / von Kaenel / Rudolph, a.a.O., N 5 zu Art. 337 OR.
  26. Vgl. Roberta Papa, Fristlose Kündigung für 0,5 Promille, in: Push-Service Entscheide, publiziert am 12. August 2010; BGE 4C.112/2002.
  27. Man kann sich aber fragen, ob bei einem Berufschauffeur, der Fahrzeuge auf dem Flughafengelände bewegt und damit potenziell eine Gefahr für Leib und Leben einer grossen Zahl von Menschen darstellt, nicht doch eine strikte Alkohol-Nulltoleranz in dem Sinn zu fordern wäre, dass auch schon der erste Verstoss eine fristlose Entlassung rechtfertigen muss. Es ist heute als erwiesen anzusehen, dass bereits eine Alkoholisierung von 0,5 Promille ein Nachlassen der Aufmerksamkeit und des Reaktionsvermögens zur Folge hat, dass Seh- und Hörvermögen leicht vermindert sind, Kritik- und Urteilsfähigkeit sinken und der Betroffene generell zu ­einer höheren Risikobereitschaft neigt (Quelle: www.beobachter.ch, mit weiteren Angaben).
  28. Das Urteil ist abgedruckt in den Entscheiden des ­Arbeitsgerichts Zürich 2009, Nr. 17. Eine dagegen erhobene Berufung wurde am 10. September 2009 durch Vergleich erledigt.
  29. JAR 2000, S. 245 ff.
  30. Vgl. www.welt.de.
  31. «Anne Will: Wegen Frikadelle gefeuert – gnadenlose Arbeitswelt?», Sendung in der ARD vom 11. September 2009.
  32. www.welt.de.
  33. www.focus.de.
  34. www.nypost.com.
  35. Diesem Kriterium wurde in mehreren Entscheiden ein besonderes Gewicht zugemessen. So wurde die Unrechtmässigkeit der fristlosen Kündigungen in den erläuterten Fällen BGE 4C.114/2005 (Stempeluhrmanipulation eines Schichtführers, vorn Punkt 3.3) und BGE 4C.364/2005 (Zerstörung eines Transportstuhls durch einen Rettungssanitäter, vorn Punkt 3.4) wesentlich damit begründet, dass es sich um einmalige, aus einer besonderen Situation heraus entstandene Ereignisse gehandelt habe.
  36. Vgl. weiterführend zum Thema Roger Rudolph, ­Ba­gatelldelikte am Arbeitsplatz: ein ausreichender Grund für eine fristlose Entlassung?, in: AJP 2010 S. 1516 – 1528.
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