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Gestützt auf die Delegationsnorm von Art. 19 Abs. 3 BVG hat der Bundesrat in Art. 20 BVV 2 Bestimmungen über den Anspruch der geschiedenen Ehegatten auf Hinterlassenenleistungen erlassen. Danach ist der geschiedene Ehegatte nach dem Tod seines früheren Ehegatten der Witwe oder dem Witwer gleichgestellt, sofern die Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat (lit. a) und dem geschiedenen Ehegatten im Scheidungsfall eine Rente oder eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente zugesprochen wurde (lit. b).

Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf eine Witwenrente. Unbestritten ist, dass sie die Voraussetzung für einen Witwenrentenanspruch nach lit. a der genannten Bestimmung erfüllt. Hingegen steht in Frage, ob als Voraussetzung der zugesprochenen Rente nach lit. b befristete Unterhaltszahlungen genügen, wie sie der Beschwerdegegnerin im Scheidungsurteil bis September 2018 zugesprochen worden waren, oder ob eine lebenslängliche Rente vorausgesetzt ist.

Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut. Ist der Text nicht klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte, auf den Zweck der Norm, die ihr zugrunde liegenden Wertungen und ihre Bedeutung im Kontext mit anderen Bestimmungen. Die Materialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatikalische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab.

Zunächst ist der sprachliche Sinn des Passus «eine Rente oder eine Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente» in Art. 20 Abs. 1 lit. b BVV 2 zu ermitteln. Aus dem Sprachsinn ergibt sich nicht, dass der Begriff «lebenslänglich» auch für die Rente zu gelten hat. Nach der Satzstellung und dem allgemeinen Sprachgebrauch ist vielmehr davon auszugehen, dass «lebenslänglich» gerade nur für die Kapitalabfindung gilt und es sich bei der Rente demzufolge nicht um eine lebenslängliche handeln muss, zumal ansonsten der Passus anders hätte formuliert werden können («eine lebenslängliche Rente und eine Kapitalabfindung für eine solche ...» oder Ähnliches). Das Gleiche gilt für die französische Fassung.

Auch aus der Entstehungsgeschichte lässt sich nicht ableiten, dass entgegen dem Wortlaut von einer lebenslänglichen Rente als Voraussetzung auszugehen wäre. Vielmehr führt das BSV in der Mitteilung Nr. 1 über die berufliche Vorsorge vom 24. Oktober 1986 aus, Art. 20 BVV 2 verfolge den Zweck, den sog. Versorgerschaden auszugleichen, den die geschiedene Frau durch den Wegfall dieser Unterhaltsbeiträge erlitten habe.

Dass ein Versorgerschaden Voraussetzung sein soll für einen Anspruch auf Hinterlassenenleistungen, hat das Bundesgericht in mehreren Urteilen festgehalten. Diesen Grundgedanken hatte auch das BSV im Kommentar zum Entwurf der BVV 2 vom 9. August 1983, S. 27, zum Ausdruck gebracht.

Wie bereits ausgeführt, bezweckt die (BVG-)Hinterlassenenrente für geschiedene Ehegatten den Ersatz des Versorgerschadens. Dass gerade dies jedoch dafür ausschlaggebend sein soll, dass eine lediglich befristet zugesprochene Unterhaltsrente als Anspruchsvoraussetzung nicht genügt, ist nicht stichhaltig. Es leuchtet nicht ein, weshalb ein Versorgerschaden nur bei einer lebenslänglichen Unterhaltsrente (und bei einer Kapitalabfindung für eine lebenslängliche Rente) entstehen sollte. Dabei ist überdies zu beachten, dass es früher üblicher war, unbefristete Renten zuzusprechen, im Gegensatz zu heute.

Die Differenzierung zwischen lebenslänglich und nicht lebenslänglich macht im Zusammenhang mit dem Versorgerschaden nur bei der Kapitalabfindung wirklich einen Sinn, da grundsätzlich derjenige, der eine Kapitalabfindung erhält, gar keinen Versorgerschaden erleidet. Mit der Abfindung soll gerade das Risiko des Todes des Leistungsverpflichteten ausgeschaltet werden.

Zusammenfassend ergibt damit die Auslegung von Art. 20 Abs. 1 BVV 2 unter grammatikalischen, entstehungsgeschichtlichen und teleologischen Gesichtspunkten, dass auch eine befristet zugesprochene Unterhaltsleistung als Voraussetzung für den Anspruch auf Witwenrente der beruflichen Vorsorge genügt.

Art. 19 Abs. 3 BVG; Art. 20 Abs. 1 BVV 2

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(BGer., 6.09.11 {9C_35/2011}, Mitteilungen über die berufliche Vorsorge Nr. 125, 14.12.2011)

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